„Wir waren fast noch Kinder“ –
Die Ostarbeiter vom Rammelsberg

(Rammelsberger Forum, Band. 2), Verlag Goslarsche Zeitung, Goslar, 2003


Leseprobe:

Auf unserer ersten Reise konnten wir den schwerkranken Sergej Letjuga nicht besuchen. Sein Sohn Anatoli hat ihn aber kurz darauf befragt und uns darüber einen förmlichen Bericht zugeschickt. Ich dachte zuerst, es sei ein Filtrationsprotokoll, denn es beginnt mit der Frage: „Warum waren Sie nicht bei der Roten Armee oder bei den Partisanen?“

„Ich war für die Armee untauglich, weil ich einen Trommelfellschaden hatte und schlecht hörte. Von den Partisanen hatten wir in unserem Dorf noch nichts gehört.“

Aber lebte Letjuga damals nicht in Sumy? Hielt er sich nicht auf dem Markt auf? Natürlich würde ich jetzt – wo ich vor Ort bin – gern alles ganz genau wissen, möchte jeden Widerspruch klären. Aber es gibt zum Glück nicht nur meine eigene Hemmschwelle, sondern handfeste Faktoren, die verhindern, dass ich wie eine Filtrationsbeamtin agiere: Peters Filmaufnahmen beeinflussen die Interviews und verhindern ein Frage-Antwort-Spiel. Die Zeitzeugen reden – übrigens allesamt unbeeindruckt von der Kamera – in längeren, zusammenhängenden Passagen, die Ina dann nur knapp zusammenfasst. Für mich bleibt wenig Gelegenheit zur Nachfrage.

Anatoli hat uns in Sumy abgeholt und nach Osten gefahren, dorthin, wo nun die russisch-ukrainische Grenze liegt, ein waldreiches Gebiet, das einst wohl zum Operationsraum der Partisanen gehörte. Im Frühjahr 1942 aber konzentrierten sich die Partisanen noch auf die Stadt Sumy. Sie agitierten in den Betrieben, forderten die Arbeiter zu Widerstand und Sabotage auf. Wahrscheinlich erreichten sie damals die Menschen in den Dörfern ebenso wenig wie die arbeitslosen Jugendlichen auf dem städtischen Markt.

Wir halten vor einem Häuschen, in dem der 87-jährige Sergej Letjuga alleine lebt. Anatoli, der bei einem Erdgasunternehmen bei Krasnopolje beschäftigt ist, versorgt ihn nach der Arbeit. Der kleine gebeugte Mann kommt uns entgegen, mühsam stützt er sich an der Wand und den Möbeln ab. Helfen lässt er sich dabei selbst von seinem Sohn nicht. „Alt bin ich geworden, alt“. Seine Stimme ist tönern, die Stimme eines Tauben.

Wir werden in ein winziges Zimmer geführt. Hier steht ein Bett, ein Schrank,die Wände ziert ein Behang und ein paar Bilder, Hochzeitsfotos der Kinder.

„Schon seit 19 Jahren bin ich allein“, sagt Sergej Letjuga. Anatoli schreibt mit großen Buchstaben Fragen auf einen Zettel. Der alte Mann liest sie mühsam durch seine dicken Brillengläser. Er ist ein bisschen aufgeregt, aber er weiß, dass wir in freundlicher Absicht kommen.

„Was soll ich euch vom Bergwerk erzählen? Na ja, schlimm war es da unten, ganz tief unten. Dunkel und sehr viel Lärm und sehr schlechte Luft und nichts zu sehen, nur eine riesige Wand, und in diese Wand wurden Löcher gebohrt und dann Sprengstoff hineingesteckt. Und dann explodierte das alles. Es war sehr, sehr laut.“



Sergej Letjuga starb wenige Monate nach unserem Besuch im Frühjahr 2001.


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