Entwurzelt

Displaced Persons im Salzgittergebiet

unter Mitarbeit von Andreas Ehrhardt
Herausgegeben vom Arbeitskreis Stadtgeschichte Salzgitter e.V., Salzgitter 1994

Einleitung

Lokale Geschichtsschreibung beschreibt in der Regel stabile Gemeinschaften, die sich nur über längere Zeiträume hinweg verändern; selbst große von außen kommende Veränderungen, sei es die Abwanderung eines Bevölkerungsteils, sei es der Zustrom neuer Bevölkerungsgruppen, zerstören die Struktur des Gemeinwesens nicht, auch wenn sie sie allmählich verändern. Wer in turbulenten Zeiten entwurzelt wurde, kommt schließlich irgendwo an und beginnt sich einzurichten. Auf diese Neuorganisierung des Lebens richtet sich in der Regel der Blick regionaler oder lokaler Geschichtsschreibung.

Im Folgenden wird eher eine kafkaeske Bahnstation beschrieben, an der Tausende von Menschen auf ihrer armseligen Habe sitzen und warten. Sie warten in Gruppen, die nichts miteinander zu tun haben wollen. Manchmal fahren Menschen ab - sie werden vom Bahnpersonal aus einer Gruppe gerissen und in die Züge gedrängt. Die Zurückbleibenden sind erleichtert, daß sie weiter warten dürfen. Ab und an dröhnen die Lautsprecher und preisen einen Zug an, er allein fahre in die richtige Richtung. Menschen, die nicht länger warten wollen, folgen dem Aufruf. Ankommende Züge entladen Reisende, die die Lücken, die die Abgereisten in den Menschentrauben hinterlassen haben, auffüllen. Den Wartenden, ob sie resignierend auf ihren Koffern sitzen oder wütend durch die umliegenden Dörfer ziehen, scheint jede Möglichkeit der Selbstbestimmung über ihren Weg und ihr Ziel genommen zu sein.

Wann fahren die Fremden endlich ab, fragen sich die Dorfbewohner beunruhigt. Ihre Chroniken und mündlichen Berichte transportieren die Angst vor den Fremden, über deren Schicksal und Motive sie nichts wissen wollen, bis in die Gegenwart.

Die vorliegende Studie konzentriert sich darauf, die unruhigsten Jahre an dieser „Bahnstation“ nachzuzeichnen. Wo kommen die Wartenden her, worauf hoffen sie? Wo ist der Bahnhofsvorsteher, wer stellt die Fahrpläne zusammen, woher kommen und wohin fahren die Züge? Und was geschieht in den fernen Schaltzentralen, die das lokale Geschehen beeinflussen und lenken?

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Aus dem Inhalt:

I. Schnelle Rückführung aller DPs - eine teilweise gescheiterte Operation
Anfänge der DP-Betreuung im Salzgittergebiet unter amerikanischer Besatzung / Wohin mit all den Polen? / Organisation der militärischen DP-Hilfe und Kontrolle / „Eher bringen wir uns um!“ Politik der Zwangsrepatriierung sowjetischer Staatsbürger und das Ukrainerproblem / Law and Order – Displaced Persons als Sicherheitsproblem

II. Wachsender Druck auf die polnischen DPs: Repatriierung oder „Moves“
UNRRA – Hilfsorganisation und Hilfstruppe / „Train Eagle“ – Repatriierung der Polen / Von einem Camp zum anderen / Operation „Wanted“ – ein letzter Versuch, Probleme militärisch zu lösen

III. Abbau der Sonderrechte für DPs
Von der Militär- zur Zivilverwaltung; die UNRRA wird zerschlissen / „Bleiben und abwarten“. Die Repatriierungs-Kampagne im Herbst 1946 / „No work, no food“ – das Beschäftigungsprogramm 1946/47 / Nationalitätenprobleme, Nationalismus und Antisowjetismus

IV. Neue Perspektiven?
Der Jugend die Zukunft / Run down – Das Ende der UNRRA / Westward Ho! / Exkurs: Weiße, graue, schwarze Jugoslawen / Gestrandet. Rumänen im Salzgittergebiet

Befreiung – und was dann?
Artikel von 1995 als PDF