Freiluftübungen fehl am Platz?


Zusammenleben am „Platz“

Die einen nennen ihn Frankfurter Platz, die anderen Bergfeldplatz – wer in den angrenzenden Straßen wohnt, spricht nur vom Platz. Der Platz ist Versorgungs- und Kommunikationszentrum. Gegenüber vom türkischen Lebensmittelladen gibts Zeitungen und Lottoscheine und Radiergummis. Abends holt man schnell noch Bier und Zigaretten am Kiosk, Ecke Helenenstraße, der aber nicht der einzige Kiosk am Platz ist. Eine Bäckerei am südlichen Ausläufer des Platzes behauptet sich gegen einen Brötchenfabrikanten, auch ein Blumengeschäft gibt es seit langem, ein Wein & Mode-Laden namens „Lila Laube“ dagegen wurde eine Weile als Exotikum bestaunt und mußte dann schließen. Es ist ein Viertel, in dem (noch) Leute mit schmalem Geldbeutel wohnen können: Alte, Alleinerziehende, Studenten, Ausländer.

An lauen Sommerabenden sitzt ein überwiegend jugendliches Publikum vor einem Lokal an der Nordseite des Platzes und betrachtet das Treiben: Kinder jeder Größenklasse, Hunde, Motorradfahrer, alte Leute, und den Pulk der „Dasteher“ gibt es da zu sehen.

„Ich beneide Dich, hier zu wohnen – welch ein Leben!“ rief neulich eine Bekannte entzückt aus, und ich nickte einigermaßen stolz und verdrängte die Bilder von Situationen, in denen es hier nicht gar so nett und friedlich ist, wenn beispielsweise am Kiosk das Blut spritzt und der Besitzer schreit: „Geht endlich nach Hause, ihr Penner!“

Der Platz ist eine soziale Instanz. Konflikte, deren Lösung in den eigenen vier Wänden ausweglos erscheint, werden hier in aller Öffentlichkeit ausgetragen.

In den letzten Jahren hat die Zahl derer, die am Platz stehen und Bier trinken, zugenommen. Sie stehen in der Regel da und unterhalten sich, manchmal fällt einer um. Ab und zu kommt es zu Streit und internen Auseinandersetzungen.

Am Kiosk lag neulich eine Einladung zu einer Veranstaltung unter dem Titel „Zusammenleben?!“ im Rahmen der Stadtteilwoche im westlichen Ringgebiet. Lärm und Müll, verursacht durch die Biertrinker, verärgerten die Anwohner, hieß es da, und: „Wir finden, daß wir es uns nicht leisten können, Gegensätze zu verschärfen, wo wir miteinander ins Gespräch kommen müssen“. „Wir“, das waren zehn einladende Institutionen aus Politik und Sozialarbeit. Die Befürchtung, daß an dem Abend in der AWO-Altentagesstätte mal wieder über die Köpfe von Betroffenen hinweg diskutiert würde, bewahrheitete sich glücklicherweise nicht. Es meldeten sich immerhin zwei Gruppen von Betroffenen zu Wort und machten deutlich, daß das Problem ein lokales ist. Abgesehen davon, daß natürlich auch einige Wohnungslose vom Jödebrunnen den Treff am Platz nutzen, hat das Gros der Dasteher (noch) keine Wohnungsprobleme, sondern wohnt um die Ecke. Ihr Hauptproblem, das sie auch benennen, heißt Isolation: Da ist der eine arbeitslos geworden, einem anderen ist die Frau abhanden gekommen. Die Suche nach der billigsten Variante von Kommunikation & Betäubung führt auf den Platz. „Es gibt Zeiten im Leben, in denen man keine Perspektive hat, und dann ist der Platz eine Möglichkeit“, sagt einer, der gegenwärtig nicht mehr dasteht.

Die Kontrahenten des Abends sind die „Mamas“, weißhaarige Frauen jenseits der 65, aber ihre Ausführungen werden vom Protestgemurmel der Dasteher und Wohnungslosen begleitet, das sich schließlich in dem Ausruf „Eine Mama haben wir alle gehabt!“ entläd. Diese Frauen wollen Ordnung und Sauberkeit am Platz und im Leben allgemein. Sie sind in der Zeit des Nationalsozialismus aufgewachsen, dann haben sie Trümmer geräumt und die Locken eingewickelt und was geschafft. Sie starten drakonische Hilfsangebote und Gesundheitsappelle, ihre Streitbarkeit hält sie sichtlich jung.

Seltsam einig sind sich alle Betroffenen in ihren Forderungen: Der Platz braucht wieder Bänke, die von allen, den älteren Leuten wie den Dastehern genutzt werden können, und eine Toilette muß her. Wer Bier trinkt, fühlt bekanntlich nach einiger Zeit den unaufhaltsamen Drang zu urinieren. Der Weg in die eigene Wohnung ist für die Dasteher denn doch zu weit und den Wohnungslosen unmöglich. Also kommen zu einer unerträglichen Ansammlung von Hundekot- und -pisse rund um den Platz auch noch menschliche Ausscheidungen, und das eher in Haus- und Kellereingängen denn auf offener Straße.

Die Politiker, die sich offensichtlich darauf vorbereitet hatten, Versprechungen zur Lösung der Wohnungsnot abzugeben, müssen sich sagen lassen, daß sie bisher gegen die Interessen der Bürgerinnen und Bürger rund um den Platz gehandelt haben. Auf einen einstimmigen Beschluß des Bezirksrates hin und in der Hoffnung den „Pennern“ ihre Treffmöglichkeiten zu nehmen, waren kurzerhand alle Bänke am Platz entfernt worden. Der einzige Effekt ist, daß es nun an den Bushaltestellen zu Reibereien kommt.

Ein paar Bänke und eine Toilette am Platz, wahrhaft bescheidene Bürgerwünsche im Wahlkampf, und die kleine Welt am Platz wäre zwar nicht „in Ordnung“, aber es ließe sich besser in ihr (zusammen)leben.

sz 10/91

Wer den Platz kennt, merkt, dass bei dem nebenstehenden Text ein paar Details nicht stimmen. Das Blumengeschäft gibt es schon eine ganze Weile nicht mehr und die überdachten Wartebänke der Bushaltestellen sind längst abgebaut. Aber sonst: Kommunalwahlen stehen an, der Platz mit seinen bekannten Problemen ist mal wieder in der Diskussion.

Des Rätsels Lösung ist: Der Text ist schon etwas älter; ich habe ihn vor 15 Jahren für die damals noch existierende Stadtzeitung geschrieben.

Sie lassen sich ebenso wenig vertreiben wie die „Dasteher“ vor 15 Jahren. Die „Freilufttrinker“ von 2006 bringen nicht nur zum Sommerfest sondern täglich ihre Campingstühle mit auf den Platz.

2006: Mal wieder wird geplant: Begrünung und kein Durchgangsverkehr mehr. Ein Platz allein zum Flanieren. Sitzgelegenheiten sind nicht vorgesehen. Bänke stehen zwar ausdrücklich auf der Wunschliste von 40 % der befragten Bürger, aber „einige Befragte“ befürchten eine Vermehrung der Freilufttrinker. Die Politik befürchtet mit. Bei der „Aktion Saubere Stadt“ werden die sozialen Probleme gleich mit unter den Teppich gekehrt. Wie geht es weiter 2007/8 ?

Alle Fotos vom Sommerfest 17.6.2006.

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